Die 90er-Jahre
W ir müssen das O rchester gleich-
sam m it den Ohren „se h e n ". Des-
halb fordern w ir zu recht vom Ton-
träger und unserer Anlage eine viel
höhere O rtbarkeit als vom Live-Er-
lebnis
wir erwarten heute von HiFi
mehr als jemals zuvor
Dieses Bew ußtsein hat sich - para-
doxerweise m eistens unbew ußt -
erst im Laufe der Zeit e ntw ickelt.
Brachten die ersten Stereo-Aufnah-
men durch ihre Unterscheidbarkeit
von rechts und links eine aufre-
gende Neuerung in die heim ische
H örerfahrung, w o llten w ir später
auch eine natürliche Staffelung der
Instrum ente
über
die
gesam te
Breite. W ieder später forderten w ir
obendrein die Erfahrbarkeit von Tie-
fe, und heute sind w ir nicht zufrie-
den, w enn w ir nicht die W ände der
Konzerthalle sow ie den Abstand
der Instrum ente untereinander aku-
stisch „se h e n "kö n n e n .
Das ist viel mehr, als w ir im Konzert
jem als g e w o llt haben. Und es ist
som it viel mehr, als der B egriff High
Fidelity jem als m einte. Den Stand-
ort der falsch spielenden Violine
kennt nur der Dirigent, um den sich
das O rchester im 180-Grad-Bogen
gruppiert. Denn er ist den Instru-
m enten so nah, daß er viel m ehr Di-
rektschall als das Publikum be-
kom m t. Das bedeutet, daß der Or-
chester-Klang, den der D irigent
hört, sich von dem, den w ir hören,
drastisch unterscheidet. Es sind
einfach zwei ganz unterschiedliche
Klänge. Im Falle einer Aufnahm e ist
der
D irigent deshalb
überhaupt
nicht in der Lage, deren M aßstäbe
vorzugeben. Die späten Einspie-
lungen m it Karajan etw a w urden
nach seinem Ideal aufgenom m en,
und sie klingen ganz anders als die
Klangerfahrungen, die w ir aus Kon-
zerten gew öhnt sind. Die durch-
schnittliche Konzerthalle gibt uns
aber, w ie gesagt, nur einen sehr va-
gen Eindruck von der Räum lichkeit.
Von unserer HiFi-Anlage fordern w ir
heute iedoch das totale Erlebnis
Das Erlebnis nämlich, das uns Au-
gen und Ohren im Konzert gem ein-
sam geben, aber eben ohne die 70
Prozent Inform ation der Augen.
STEREO 5/97
Was können w ir tun, dam it unsere
Ohren besser „schauen" und dem
Gehirn die fehlenden optischen Ein-
drücke ersetzen? Eine Frage, die
sich Toningenieure seit Jahrzehn-
ten stellen und die viele bereits vor
30 Jahren bem erkensw ert schlüs-
sig beantw orteten. Die einen posi-
tionierten das M ikrofon am Platz
des D irigenten. So erreichten sie
viel Direktschall. Aber auch die für
den normalen, an den Saal-Hall ge-
w öhnten
Hörer künstliche
180-
Grad-Perspektive.
Rückten sie das M ikrofon vom O r-
chester weg, w urde die Perspekti-
ve w ieder eingängiger, w eil m ehr
natürlicher Hall hörbar war. Dafür
nahm m it jedem Schritt die O rtbar-
keit ab. Einem Großteil der Aufnah-
m eleiter schien hier ein Kompromiß
zwischen dem D irigentenpult und
einem durchschnittlichen Sitz in der
Halle angesagt. Natürlich einem in
der M itte, um die Querbalance zu
wahren. Den besten Platz fü r das
M ikrofon zu finden, ist in jedem Fall
schw ierig und zeitaufw endig, des-
halb w ird es so selten gem acht.
Mangelnde Technik - schlech-
ter Klang?
Erstaunlich ist, daß selbst in Zeiten
m angelnder technischer A u sstat-
tung klanglich hervorragende Ein-
spielungen e rstellt w urden.
Bis
1970 hatten die Toningenieure viel
w eniger M ikros zur Verfügung als
heute. Außerdem boten die dama-
ligen Bandmaschinen nur zwei oder
drei Spuren. Doch Künstler geben
bekanntlich im m er dann ihr Bestes,
wenn sie gefordert w erden. In der
Phase der technischen Lim itierung
m ußten M usiker und Toningenieu-
re eng Zusammenarbeiten, um die
korrekte Balance am einzelnen M i-
krofon zu erreichen. Statt die Laut-
stärke der Flöte am M ischpult ein-
zustellen, w urde der F lötist eben
angewiesen, etw as leiser oder lau-
ter zu spielen.
W as auf diese W eise entstand,
können w ir erst m it heutigen Anla-
gen nachvollziehen. Denn erst in
den letzten Jahren sind w ir te ch -
nisch in die Lage gekom m en, den
dreidim ensionalen Raum dieser al-
ten A ufnahm en realistsich repro-
duzieren zu können. Ein faszinie-
rendes Phänomen!
Einen A usw eg aus dem Dilem m a
zwischen Direktschall und Hall bot
später die Verwendung von Stütz-
m ikrofonen in der Nähe einiger
w ichtiger Instrum ente - etwa Soli-
sten -, die m it dem stereofonen
H auptm ikrofon überblendet w e r-
den. Da der Schall sich nur rund 340
M eter pro Sekunde ausbreitet, be-
w irk t eine Entfernung von zehn
M etern zwischen Stütz- und Haupt-
m ikrofon bereits eine Verzögerung
von 30 M illisekunden, die w ir als
natürliches Echo hören.
High Fidelity - ein Begriff, der
sich stetig weiterentwickelt
Nun haben w ir jedoch ein anderes
Problem: Luft ist nicht perfekt. Sie
absorbiert sagen w ir mal auf eine
Entfernung von 20 M etern zum Or-
chester viel stärker hohe als tie fe
Frequenzen. D icht am O rchester
„h ö re n ” die M ikros also viel m ehr
Höhen als der durchschnittliche
Konzertbesucher. Sie sehen, selbst
High Fidelity zu bieten, ist gar nicht
so einfach, und Sie w ollen m it
vollem Recht noch viel mehr.
W as ich aus dem Umgang m it HiFi-
und A ufnahm etechnik gelernt ha-
be, ist, daß High Fidelity und High
End keine fixen Begriffe sind, son-
dern einen Anspruch benennen,
der sich fortw ährend ausdifferen-
ziert und reift. Und w ie es in jedem
Film harte Schnitte zwischen Groß-
aufnahm en und Totaler, Kamera-
fahrten und Überblendungen gibt,
die kein M ensch real so erleben
könnte, folgt auch das M edium , das
M usik reproduziert, seinen im m a-
nenten Regeln, deren Postulat der
glaubhaften W irklichkeitsabbildung
o ft nur durch unnatürliche M itte l
umsetzbar ist.
Die - w ie im Film - auch eine ästhe-
tische Kom ponente haben. W enn
ich m it den Ohren „s e h e ” , w ie bei-
spielsw eise in EM Is Carm en-Ein-
spielung (CDS 7543682) am Ende
des zw eiten Aktes der Sänger quer
über
die
Bühne
w andert,
um
schließ lich aus dem H intergrund
zum M ikrofon vorzulaufen, ist das
für m ich wahre Tonkunst. Die Plat-
te stam m t von 1964.
„Am Anfang
der Stereo-
fonie fan-
den wir es
toll, rechts
und links
unterschei-
den zu kön-
nen, dann
verlangten
wir nach
Tiefenstaf-
felung,
und heute
wollen
wir am lieb-
sten noch
die Raum-
dimensionen
akustisch
nachvollzie-
hen.” Für
Oie Lund
Christensen
ist das
Verständnis
von HiFi
einem stän-
digen Wan-
del un-
terworfen
149
30 JAHRE STEREO
147